Europa – wohin gehst du?

Nach dem Europagipfel vor einiger Zeit stellt sich vermehrt die Frage, wohin der Weg Europas geht, was in der Zukunft vom europäischen Gedanken bleibt oder gar weiterentwickelt werden kann. Die Bewertungen des Europagipfels gehen weit auseinander, wie nicht anders bei einer solch kritischen Situation zu erwarten. Dabei steht natürlich das konkrete finanzielle Ergebnis vor dem Hintergrund der Coronakrise im Vordergrund, aber ebenso wichtig ist die Wirkung dieses Gipfels für die Zukunft des europäischen Gedankens, insbesondere nachdem schon in der jüngeren Vergangenheit von Nationalisten, z.B. in Deutschland die AfD, gewaltig gegen Europa, seine Inhalte, seine Werte getreten wurde.

Von Rolf Künne

Schaut man auf die konkreten Ergebnisse des EU-Gipfels so kann man sagen: Man hat für die drängenden Probleme eine Lösung gefunden, man hat sich -zwar mühsam- zusammengerauft. Die von der Coronapandemie besonders gebeutelten Länder bekommen jede Menge Geld von der europäischen Union, um ihrer Wirtschaft und ihr soziales Gefüge wieder in Ordnung zu bringen. Und das in etwa zur Hälfte über Zuschüsse und etwa zur Hälfte über Kredite. Außerdem hat man sich auch auf einen Haushalt von ca. 1,07Billionen Euro für die nächsten 7 Jahre geeinigt. (Man muss bei dieser gewaltigen Zahl die Laufzeit beachten, so dass pro Jahr ein Haushaltsvolumen von ca. 144 Mrd.€ bleibt, also etwa ein Drittel des Jahreshaushalts in Deutschland.)

Allerdings ist die Übereinkunft mit einigen Abstrichen in Einzelpositionen des Haushalts erkauft worden, als da sind: Bildung, Forschung, Klimaschutz, Digitalisierung und Migration. Das Europaparlament, das dem Gipfelkompromiss der Ministerpräsidenten noch zustimmen muss, lässt zwar seine grundsätzliche Bereitschaft zur Zustimmung der Gipfelergebnisse erkennen, verlangt aber Korrekturen bei den Kürzungen in den vorgenannten Politikfeldern. Wie das enden wird, ist zurzeit noch nicht zu sagen.

Aber: So weit, so gut! Man könnte also sagen: Europa (EU) lebt, man kann zu Einigungen in den wesentlichen Fragen kommen, Europa ist also auf einem brauchbaren Weg.

Das greift erkennbar zu kurz. Man sieht dabei nicht, die gewaltigen Schrammen, die der europäische Gedanke erhalten hat. Man muss erkennen, dass viele Repräsentanten in den EU-Staateneindeutig das Wohl ihres Landes über das Wohl der Gemeinschaft stellen. Man darf auch nicht übersehen, dass Europa in mehrere Gruppen, Allianzen zerfallen ist.

Da sind zunächst die südeuropäischen Staaten Italien, Spanien, Portugal, die hart vom Coronavirus betroffen sind.

Da sind die osteuropäischen Staaten Polen Tschechien, Ungarn , mit Abstrichen die Slowakei, die lediglich auf das europäische Geld aus sind, denen der europäische Gedanke egal ist, zum Teil (Polen, Ungarn) gar zuwider.

Da sind die „Habenichtse“, die aus ihrer Not heraus nur ans Geld denken können, deren Infrastruktur und Gesellschaft völlig im Argen liegt: Kroatien, Bulgarien, Rumänien.

Da sind die Staaten, die eine starke nationalistische politische Bewegung in ihren Grenzen haben, die Europa mehr oder minder ablehnen und deren Regierungen deshalb vorsichtig agieren müssen und europäische Gedanken nur zögerlich verfolgen dürfen. Als da sind: Niederlande, Dänemark, Schweden, Finnland, Österreich.

Da sind die Staaten, die ziemlich gleichgültig und bedeutungslos dem europäischen Gedanken folgen wie Irland, Belgien, Estland, Lettland, Litauen.

Und da sind die Staaten, denen der europäische Gedanken etwas bedeutet: Luxemburg, Frankreich, Deutschland.

Aber bei diesen dreien gibt es auch erhebliche Beschränkungen:

Luxemburg ist zu klein, zu unbedeutend.

Frankreich hat nur einen Präsidenten Macron als Verfechter des europäischen Gedankens, hingegen eine mächtige antieuropäische und nationalistische Strömung.

Deutschland ist das Land, das traditionell eng mit Europa verbunden ist (auch aus wirtschaftlichen Interessen- Export!), das aber eine Kanzlerin hat, die bei all ihren Vorzügen nicht die Fähigkeit zur Begeisterung, wie einst Helmut Kohl, besitzt und damit die Geschicke Europas nur rational und nicht aus Herzenswärme heraus leitet.

Dieser zerstrittene Haufen wird nur von einem zusammengehalten: Geld! Geld, das die EU verteilt und mehr oder minder als warmer Regen über die Staaten kommt. Dabei gibt es einige Nettozahler, wie z.B. Deutschland, die mehr in die EU einzahlen, als sie über Zuschüsse herausbekommen, und viele Nettoempfänger, z.B. alle osteuropäischen Staaten, bei denen es genau umgekehrt ist.

Wenn Geld nicht mehr oder nur noch gering ausgeschüttet werden sollte, wird so mancher Staat der EU den Rücken kehren. Denn dann wird die EU zerrieben auf einem Basar multipler Nationalismen und populistischer Strömungen.

Nun könnte man sagen: Wenn das -zumindest zurzeit- alles ist, was in der EU zählt, dann soll sie doch „zum Teufel gehen“. Wenn nur der „schnöde Mammon“ regiert, dann ist diese Gemeinschaft nicht wert erhalten zu bleiben. Aber was käme danach, was träte an die Stelle des Europagedanken? Es blieben Kleinst-Klein und Mittelstaaten, die jeder für sich weltweit bedeutungslos wären, die ein Spielball der Großmächte wären und auf Dauer verzwergten. Und die europäischen Ideale von Sicherheit, Freiheit, Gleichheit, sozialer Gesellschaft, demokratischem Wesen usw. gingen mehr oder minder „vor die Hunde“.

Betrachtet man die vier Machtzentren der Welt: Russland, China, USA, Europa, so stellt man fest: Lediglich in Europa werden die abendländischen, demokratischen Grundwerte noch uneingeschränkt eingehalten. Auch wenn es in der EU- Staaten gibt, die die Axt an diese Werte legen, wie Polen, Ungarn, Tschechien oder korrupte Regierungen haben, wie Malta oder hatten (wie die Slowakei). Russland hatte noch nie eine demokratisch abendländische Tradition und wird unter Putin, der im Moment seine Macht „verewigt“ hat, auch nicht dazu kommen. China geht seinen eigenen Weg, der zwar wirtschaftlich sehr erfolgreich ist und den Wohlstand seiner Gesellschaft mehrt, aber demokratische Freiheiten, individuelle Freiheiten nicht kennt und auch ablehnt. Die USA haben sich unter Trump von vielen demokratischen Werten entfernt, bis zu dem bemerkenswerten Satz Trumps: „Der Präsident steht über dem Recht!“ Ob die USA wieder den Weg zurück zu Freiheit, Gerechtigkeit, Sozialwesen, Rechtsstaat (wobei die Gerichte noch eine Institution der Festigkeit abendländischer Werte sind) finden werden, bleibt abzuwarten und wird sich eventuell mit der Präsidentschaftswahl im November diesen Jahres, so es denn dazu kommt, entscheiden.

Also bleibt Europa als Hort abendländischer Werte, so wie wir sie seit langem, in Deutschland nicht so lange, kennen. Dies gilt es, mit allen Mitteln zu verteidigen und zu erhalten und durch die Wirren und Anfeindungen eines erstarkenden Nationalismus zu retten. Und nur wenn Europa(EU) als Ganzes bestehen bleibt, wenn es als Gemeinschaft mehr ist als bloß die Summer einzelner Staaten, wird man das Ziel, Anker für Demokratie und abendländischer Werte zu sein, erreichen können. Und für dieses Ziel muss man alles, was man aufwenden kann, einsetzen.

Und dazu gehört auch: Geld! Wenn es zurzeit so ist, dass Geld allein der Kitt ist, der Europa zusammenhält, dann muss man es einsetzen. Dann  muss man, um es plakativ auszudrücken, die Widerspänstigen kaufen, ihnen die goldenen Zügel anlegen.

Parallel  dazu muss man aber auch die wesentlichen Bestandteile eines Europa entwickeln und voranbringen, als da u.a. sind: Bildung, Forschung, Klimaschutz, Digitalisierung, Migration, also die Bereiche, die gerade von finanzieller Kürzung bedroht sind. Hinzu kommen: Ein einheitliches Steuerrecht, eine Sozialcharta, eine Verteidigungsgemeinschaft (parallel zur Nato oder als deren Ersatz), ein eigenes Recht zur Steuererhebung und so manches andere mehr,

Um diese Ziele alle zu erreichen, muss ein Prinzip in der EU aufgeweicht werden (von „fallen“ zu sprechen, wäre im Moment illusorisch): Das Prinzip der Einstimmigkeit! Dieses Prinzip gilt für alle wichtigen und grundsätzlichen Entscheidungen. Wenn man die EU voranbringen will, muss man -nach und nach- zu einem Mehrheitssystem kommen, ggfs. mit sog. qualifizierten Mehrheiten. Das wird sehr schwer, denn welcher Staat, gerade die Renitenten, gibt diese Machtposition auf? Das wird nur in einem langen, mühsamen Prozess vorankommen. Dafür muss man etwas geben und zwar Geld! Anders wird es nicht gehen!

Also gilt auch hier Goethes Wort: „Am Golde hängt es, zum Golde drängt es.“

Aber für den Erhalt Europas sind es alle diese Mühen wert!